Montag, 4. November 2019

Tag 4: Ich bin abhängig

Hallo und willkommen zu Tag 4 des Diabetesmonats hier auf meinem Blog!

Heute möchte ich endlich, endlich über ein ernstes Thema sprechen, dass mir schon so lange auf der Zunge brennt. Erinnert ihr euch noch daran, dass ich am Freitag über meine lange Liste voller Ideen sprach? Das heutige Thema steht ganz oben auf meiner Liste, und das schon sehr lange. Ich hab mich aber irgendwie bisher nie getraut, meine Gedanken dazu zu teilen und bin froh, dass der November mir nun endlich den Anlass gibt, den Text dazu zu verfassen.

Bevor ich aber richtig einsteige, möchte ich noch kurz einige Dinge vorweg nehmen.

Erstens wird dieser Blogpost leider kein happy fröhlicher Text und er wird leider auch nicht damit enden, dass schon irgendwie alles gut werden wird. Er handelt von Zukunftsangst und der Angst, keinen Zugang zu Insulin zu haben. Wenn es euch also gerade nicht so gut geht, überlegt euch zwei Mal, ob ihr den Text heute lesen möchtet.

Mir ist außerdem bewusst, dass wir es hier sehr gut haben. In vielen Regionen der Welt gibt es für Menschen mit Diabetes keinen oder nur einen sehr erschwerten Zugang zu Insulin (ich las von 1/3 aller Menschen mit Diabetes weltweit, die überhaupt keinen Zugang haben). Menschen sterben deswegen. Das muss sich ändern, und zwar eigentlich früher als vorvorgestern. Wenn ihr könnt, spendet an T1International oder schickt Insulin (nicht abgelaufen!), Teststreifen oder Pennadeln an Insulin zum Leben. Ein 20kg schweres Paket mit Insulin und Hilfsmitteln zu versenden kostet sie derzeit 186,99€. Geldspenden machen also auch hier Sinn, wenn ihr könnt. Das sind alles wertvolle Tropfen auf den heißen Stein. Was wir aber eigentlich brauchen, sind große politische Veränderungen. Sofort.

Ich möchte, dass ihr wisst, dass mir zu jeder Zeit klar ist, dass ich hier aus einer extrem privilegierten Position schreibe. Es ist reines Lotterieglück, dass ich hier lebe, wo ich momentan sehr einfach an Insulin herankomme. Das nehme ich zu keiner Zeit als selbstverständlich hin und genau deswegen mache ich mir auch so viele Gedanken. Aber dass ich mir mir dieser Privilegien bewusst bin, ändert leider nichts an meinen ganz persönlichen Ängsten, um die es hier heute gehen soll.





Ich bin abhängig. 

Abhängig von etwas zu sein bedeutet, darauf angewiesen zu sein. Ich könnte 'nen ganzen Themenmonat mit Texten zu Abhängigkeit im Diabetesbereich füllen. Aber heute geht es nur um einen einzigen Aspekt der Diabetestherapie: Insulin.

Ich bin abhängig von im Labor hergestelltem Insulin, denn meine Bauchspeicheldrüse produziert leider kein körpereigenes.

Für mich ist dieser Gedanke inzwischen der normalste und gleichzeitig Angst einflößendste Gedanke überhaupt. Habe ich kein Labor-Insulin (so nenne ich in diesem Text jetzt nicht-körpereigenes Insulin), werde ich über kurz oder lang sterben. Das Hormon Insulin ist ein für alle Wirbeltiere lebenswichtiges Proteohormon, welches an der Regulation des Stoffwechsels beteiligt ist. Die Beta-Zellen meiner Bauchspeicheldrüse produzieren, wie bereits geschrieben, kein Insulin mehr. Also muss es von außen in meinen Körper gelangen. Deswegen spritze ich Insulin, mehrfach am Tag, jeden Tag. 

Ganz lange habe ich keinen einzigen Gedanken darüber verloren. Zwar ging es mir vor meiner Diagnose 2013 schlecht und mit dem Insulin dann schnell wieder besser. Aber bis ich wirklich verstanden habe was das für mein junges Leben bedeutet, ist einige Zeit ins Land gezogen. Dafür kann ich es inzwischen nicht mehr "un-denken". Ich lese die Nachrichten und kann nicht mehr gefasst bleiben. In den USA wurde das Labor-Insulin in den letzten Jahren immer weniger leistbar. In anderen Regionen der Welt ist es nicht mal verfügbar. Mir macht das Angst, ich kann die Angst immer weniger abschalten.

Ich weiß nicht, wohin mit dieser Angst.

Ich möchte nicht, dass sich mir nahestehende Personen wegen meiner persönlichen Ängste Sorgen um mich machen, deswegen spreche ich eigentlich nicht darüber. Aber ich weiß auch nicht, ob in der Diabetescommunity überhaupt Platz ist für diese Art von Ängsten, die man eigentlich lieber schnell wieder zur Seite schieben möchte, wenn sie in den Kopf kommen. Und ich weiß nicht, ob es da draußen unter euch noch andere gibt, die sich ähnliche Gedanken machen. Und genau deswegen lest ihr gerade diesen Text.

Immer mehr Medikamente haben Lieferengpässe.

Letztens habe ich auf Twitter diesen informativen Thread gefunden, den ihr lesen solltet. Darin erklärt @Frolleinvommeer, was hinter aktuellen Medikamentenlieferengpässen steckt. Unter der Gelben Liste findet man übrigens eine ständig aktualisierte Liste der Medikamente, die aktuell kaum oder gar nicht lieferbar sind. Im Moment ist es besonders drastisch bei Candesartan (Blutdruck) und Venlaflaxin (Antidepressiva).

Was kommt als nächstes? Was passiert, wenn es Labor-Insulin-Engpässe bei uns hier geben sollte? Wohin entwickelt sich unsere Welt gerade und was machen wir im Falle des Falles? Muss ich meinen Insulinvorrat vergrößern, so lange es noch geht? Wie viel mehr Insulin würde mir meine Ärztin wohl verschreiben? Sollte ich mir vielleicht doch einen zweiten Kühlschrank kaufen? Oder sind all diese Gedanken total albern? Auf all diese Fragen habe ich keine Antworten.

Es macht mich wütend, abhängig zu sein.

Ich bin nicht mehr wütend auf meinen Körper, weil er kein eigenes Insulin mehr produzieren kann. Diese Zeiten sind vorbei. Aber es macht mich wütend zu sehen, zu was unser System weltweit fähig ist, und dass am Ende immer Menschen darunter leiden müssen, die nichts dafür können. Menschen sterben, weil sie kein Insulin bekommen, aber welches brauchen. Was, wenn es bei uns auch irgendwann soweit ist, und uns die ganze Technik dann auch nicht weiter hilft? Ich weiß einfach nicht wohin mit diesen Gedanken. Sie sind unbequem, ja. Deswegen sprechen wir vermutlich auch nicht darüber. Aber sie fressen mich auf. Ich mache mir definitiv Sorgen, und ich kann es nicht ablegen.


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1 Kommentar:

  1. Hey Tine, vielen Dank für diesen Artikel! Diese Ängste sind mir sehr gut bekannt. Nach einem Umzug habe ich seeeehr lange von meiner Diabetesbedarfs-Vorratshaltung gelebt. Ich habe keinen Platz mehr für die vielen Kisten... Jetzt merkt man meinen Überlebensinstinkt (oder -willen) nur noch im Urlaub. 14 Kg "normales" und 8 Kg "diabetes" Gepäck... inklusive Ersatzpumpe :-) Ja, ich bin abhängig. Und habe das Glück, dass es Insulin gibt. Und dass es für mich verfügbar ist. Ich habe das akzeptiert (auch wenn ich manchmal jammere, immer etwas mit mir rumschleppen zu müßen) und werde im Fall einer Insulinkrise vermutlich sterben. Also bin ich dankbar für das, was jetzt ist und bemühe mich, das Leben zu Leben. Möge der Tod uns lebendig finden -und das Leben uns nicht Tod! Liebe Grüße. Nina

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